Phantastische Erzählung. Ab 6 Jahren. Mit Illustrationen von Susanne Smajic. Erstmals erschienen im Thienemann Verlag 2004. Edition Gegenwind 2011
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Inhalt
Lara und ihre Mama lieben die alte Mühle, in der sie leben. Doch plötzlich ist ihr Glück in Gefahr. Oder können die Zwerge helfen, denen Lara begegnet?
Die phantastische Geschichte einer geheimnisvollen Mondnacht.
Rezensionen
„Die Geschichte ist halb Märchen, halb harte Realität (…), enthält Spannung und ist mit vielen ansprechenden Schwarz-Weiß-Illustrationen ausgestattet.“ (Buchprofile 3/2004)
„Ein wirklich fabelhaftes Lese- und Vorlesebuch für Kinder ab 6 Jahren mit lebendigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen.“ (Unabhängige Bauernstimme, März 2005)
„Eine Geschichte, die anregt zum Träumen, Erzählen und die Hoffnung gibt auf ein wundervolles zauberhaftes Leben. Sehr empfehlenswert.“ (Buchbesprechung der Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW AJuM, SIPe, Sachsen, 15.7.2004)
Leseproben
Der Tag fing an, wie ein Ferientag anfangen sollte. Die Sonne schien und Lara frühstückte mit Mama im Garten der alten Mühle, in der die drei wohnten: Mama und Lara und Blacky, ihre schwarze Katze. Der Tag ging weiter, wie ein Ferientag weitergehen sollte. Lara und Mama töpferten in Mamas Werkstatt, während Blacky sich auf dem Fensterbrett von der Sonne wärmen ließ.
Lara formte einen Zwerg aus Ton und Mama arbeitete an einer Gans mit dickem Bauch und dabei erzählte sie Laras Lieblingsmärchen: „Dornröschen“. Wie immer rieselte Lara ein Schauer den Rücken hinunter, als im Märchen die böse Fee Dornröschen verzauberte, sodass es sich in den Finger stechen und tot umfallen sollte. Als Dornröschen dann doch nur hundert Jahre schlafen musste, seufzte Lara zufrieden auf. Alles war gut, bis Mama den Briefkasten leerte und den Brief von der Sparkasse las.
In diesem Augenblick kam es Lara vor, als ob die böse Fee aus dem Märchen trat und Mama in Stein verwandelte.
Mama saß stumm da und rührte sich nicht mehr, hielt den Brief zusammengeknüllt in ihren versteinerten Händen und hatte diesen komischen Blick, der gar nichts sah. Sie hörte auch nicht, als Lara mit ihr redete.
„Mama?“, versuchte Lara es noch einmal. „Haben alle Zwerge eine Mütze auf?“
Mama antwortete nicht.
Da ging Lara leise aus der Werkstatt. Bevor sie selber auch noch aus Stein wurde.
Wenn sie nur wüsste, was man gegen so eine böse Fee tun könnte! Klar, Mama war nicht Dornröschen und sie schlief auch nicht hundert Jahre, sondern saß nur eine Zeit lang so starr da. Und Märchen waren auch nicht die Wirklichkeit, sondern eben Märchen. Aber irgendetwas wie eine böse Fee musste es sein, eine, die man nicht sehen konnte und nicht hören und nicht riechen.
Das erste Mal war Mama im Frühling so komisch gewesen, dass es Lara vorgekommen war, als hätte eine böse Fee sie in Stein verwandelt. Damals hatte ein Hochwasser das Erdgeschoss der ehemaligen Mühle überschwemmt und in der Werkstatt alles kaputt gemacht. Und als das Wasser wieder abgeflossen und der größte Dreck beseitigt gewesen war, hatte Mama auch so stumm dagesessen wie heute.
Doch bei dem einen Mal war es nicht geblieben.
Seit dem Hochwasser war Mama überhaupt anders.
Dauernd redete sie davon, dass sie einen neuen Brennofen brauchte und kein Geld dafür hatte – vor allem, wenn Oma und Opa da waren. Und manchmal redete sie eben gar nicht mehr – so wie jetzt.
Lara blieb am Hoftor vor dem Schild stehen, auf dem zu lesen war: „Töpferwaren und Kunstgewerbe. Verkauf in der Werkstatt.“ In den letzten Tagen war kein Mensch mehr da gewesen, um etwas zu kaufen. Das war schlecht, ganz schlecht, denn Leute, die viel kauften, vertrieben die böse Fee. Dann lachte Mama wieder und summte bei der Arbeit vor sich hin.
Lara starrte auf das Schild. Konnte sie etwas tun, damit Käufer kamen?
Vielleicht Blumen neben das Schild stellen, damit es Wanderern besser auffiel? Und damit diese dann Lust bekamen, in die Werkstatt zu gehen und etwas zu kaufen: Gänse mit dicken Bäuchen oder blaue Hühner oder Bäume zum An-die-Wand-Hängen oder Krüge und Becher. Damit Mama wieder normal wurde.
Lara rannte in den Garten hinter der Mühle. Sie pflückte gelbe Blumen und rote und blaue und weiße.
Dann zögerte sie. Die lila Blumen dort drüben sahen so schön aus!
Aber sie wuchsen an einer Stelle, die Lara gar nicht mochte: dicht an dem finsteren Graben zwischen Mühle und Garten. Lara wusste, dass in diesem Graben früher einmal das Mühlrad gehangen hatte.
Aber es gab schon seit langem kein Mühlrad mehr, denn die Mühle war gar keine wirkliche Mühle mehr, und der Graben war nur noch unheimlich.
Langsam ging Lara näher. Sie versuchte nur auf die Blumen zu achten, auf nichts anderes. Aber sie spürte trotzdem die Kälte, die aus dem tiefen Graben aufstieg. Und noch etwas anderes fühlte sie, etwas, was ihr den Atem nahm. Sie schauderte zusammen.
Auf einmal war ihr, als würden feine Stimmchen ihr zuflüstern: „Geh nicht zum Graben!“ – und als würden kleine zarte Händchen sie zurückhalten. Vielleicht wohnte dort ja die böse Fee? Wenn es die etwa wirklich gab …
„Du kriegst mich nicht!“, sagte sie in Richtung Graben. Ihre Stimme klang heiser.
Sie räusperte sich. „Und überhaupt, du sollst meine Mama in Ruhe lassen, das wollte ich dir nur mal sagen!“ Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Sie drehte sich um und rannte weg. Aber dann rief sie noch laut über die Schulter zurück: „Glaub bloß nicht, dass ich Angst vor dir hab!“
Rasch holte sie aus dem Haus eine Vase und stellte den Strauß neben das Schild am Hoftor. Er war auch ohne die lila Blumen schön bunt.
Kurz guckte Lara durch die offene Tür in die Werkstatt. Mama saß immer noch so stumm auf ihrem Stuhl.
Und es war keiner da, mit dem Lara darüber hätte reden können. Nicht einmal Blacky war zu sehen.
Jetzt gab es nur noch eines, wo Lara Trost finden konnte: bei ihrem Lieblingsplatz unter der Trauerweide.
Lara überquerte auf der Brücke den kleinen Fluss und lief dann durchs Gras auf die Trauerweide zu, die mitten in der Wiese stand. Die letzten Schritte zu ihrem Baum ging sie langsam und leise. Weil dies ein besonderer Ort war.
Bis zum Boden hingen die Zweige der Trauerweide herab. Durch einen Vorhang aus Blättern trat Lara unter den Baum.
Sacht streichelten die Zweige ihre Haare und ihre Arme und schlossen sich wieder hinter ihr. Sie sperrten die Sonne aus und die Welt und die Sorgen. Sie bildeten eine geheimnisvolle grün schimmernde Höhle, in der alles anders war.
Lara atmete tief auf. Hierher in ihre grüne Höhle kam keine böse Fee. Hier war alles gut.
Und Blacky war auch hier!
Die schwarze Katze schlief zusammengerollt im Gras. Nun hob sie den Kopf, blinzelte Lara an, gähnte und streckte sich. Dann legte sie den Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten.
Lara setzte sich dicht neben Blacky und kraulte sie an der Stirn. Die Katze drückte ihren Kopf gegen Laras Hand und schnurrte. Ganz schummerig wurde es Lara von diesem Schnurren. Sie lehnte sich an den Baumstamm und sah den blauen Himmel durch die Blätter und hörte das Brummen einer Hummel und das Rauschen des Flusses und das Zwitschern der Vögel. Die Augen fielen ihr zu. Da hörte sie noch etwas, ein zartes Wispern und leises Kichern. Und sie wusste: Sie waren da.
Lara hatte diese sie noch nie gesehen. Aber gespürt hatte Lara diese sie hier unter der Trauerweide schon oft. Und manchmal hatte Lara ganz leise ihr Wispern und Kichern gehört. So wie jetzt.
„Das ist nur der Wind in den Zweigen“, hatte Mama gesagt, als Lara ihr einmal davon erzählt hatte. Mama verstand das nicht. Denn Wind hörte sich nun einmal anders an und machte nicht so ein Gefühl. Es war ein schönes Gefühl. Als wäre jemand sehr Liebes da.
„Hallo, ihr?“, flüsterte Lara. „Wollt ihr mich nicht sagen, wer ihr seid?“
Ein kaum hörbares zärtliches Lachen, sonst nichts. Lara machte die Augen auf. Sonnenflecken tanzten im Gras. Außer Blacky war niemand zu sehen.
„Wart ihr das vorhin im Garten?“, fragte Lara. „Habt ihr mich vor dem tiefen Graben gewarnt? Ich mag ihn auch nicht.“
Keine Antwort.
„Ihr macht es ganz schön spannend! Aber ehrlich gesagt würde ich euch gern endlich einmal sehen!“
Doch niemand zeigte sich.
Lara seufzte. „Na gut, dann bleibt eben unsichtbar! Aber ich weiß trotzdem, dass ihr da seid, und das ist schön. Weil ich sonst nämlich gerade ganz allein bin. Weil meine Freundinnen in die Ferien gefahren sind. Und weil Mama mal wieder wie zu Stein verwandelt ist.“
Etwas pustete ihr eine Haarsträhne ins Gesicht. In den Blättern rauschte es.
„Meint ihr, ich soll mal nachsehen, ob Mama wieder normal ist?“, fragte Lara und stand auf, verließ die Baumhöhle und lief über die Brücke zur Mühle zurück.
Lara ging auf die Werkstatt zu. Kurz vor der offenen Tür blieb sie stehen. Zögerte. Lauschte. Stimmen von Käufern waren nicht zu hören. Auch sonst nichts. Nicht das Drehen der Töpferscheibe, nicht das dumpfe Schlagen, wenn Mama den Ton knetete. Einfach nichts.
Lara spähte durch die Tür. Mama saß immer noch einfach nur da.
Lara räusperte sich. Mama hörte es nicht. Lara schluckte. Aber der Kloß im Hals ließ sich nicht wegschlucken. Still schlich sie wieder aus dem Hof.
Am besten blieb sie bis Mittag weg. Am Mittag würde Mama sich ja wohl daran erinnern, dass sie ein Kind hatte, dem sie dringend was zu essen kochen musste. Und dann würde sie endlich aufstehen und in die Küche gehen und rufen, damit Lara den Tisch deckte oder Tomaten und Kräuter im Garten erntete. Und wenn sie ein paar Mal rufen und nach Lara suchen musste und sich fragte, wo Lara eigentlich abgeblieben war, würde das auch nicht schaden. Damit Mama auch einmal wusste, wie das war, wenn man sich Sorgen machte und wenn einem unheimlich war.
Lara ging an der Gartenmauer entlang und bog in den Pfad ein, der zum alten Wehr führte. Sprudelnd stürzte dort der kleine Fluss die Staustufe herunter.
Lange sah Lara zu, wie die stiebenden Wassertropfen in der Sonne funkelten. Und das Flüsschen verwandelte sich in einen reißenden Strom und die Staustufe in einen Wasserfall so hoch wie ein Kirchturm. Und Mama trieb in einem kleinen Ruderboot auf den Wasserfall zu und paddelte verzweifelt, kam aber nicht gegen die Strömung an und stürzte den Wasserfall hinunter und fiel aus dem Boot und wurde unter Wasser gezogen und bekam keine Luft mehr und ertrank beinahe und tauchte auf und schlug mit den Armen um sich und schrie um Hilfe. Denn sosehr sie auch zu schwimmen versuchte, sie kam aus dem Strudel nicht heraus. Da knotete Lara ein Seil an einen Baum, warf es Mama zu, Mama bekam es zu fassen und zog sich daran aus dem Strom und war gerettet …
Lara blinzelte. Der Fluss war kein gewaltiger Strom, sondern nicht viel mehr als ein breiter Bach, in dem man nur knietief im Wasser stand, und das Wehr war nicht so hoch wie ein Kirchturm, sondern nur ein paar Meter. Und sie hatte Mama nicht vor dem Ertrinken gerettet. Mama war in ihrer Werkstatt, aber sie töpferte nicht. Und bis Mittag war noch viel Zeit.
Lara kletterte den Hang hinauf und erreichte den alten, ausgetrockneten Mühlkanal, der hier oben vom Fluss abzweigte.
Früher einmal, vor hundert oder tausend Jahren oder so, hatte man an der Seite des Wehres einen Schieber öffnen können, sodass Wasser durch den Kanal bis zur Mühle geströmt war und dort das Mühlrad angetrieben hatte. Aber jetzt war das alles zugemauert und im Mühlkanal floss kein Wasser mehr und ein Mühlrad gab es schon lange nicht mehr.
Im trockenen Kanalbett schlenderte Lara am Hang in Richtung Mühle zurück. Altes Laub raschelte unter ihren Füßen. Als sie oberhalb der Mühle angekommen war, ging der Kanal nicht weiter, denn nun machte er eine Biegung und führte in einem vergitterten Tunnel zur Mühle hinunter.
Lara spähte durch das Gitter in den dunklen Tunnel. Mama hatte ihr erklärt, dass hier ganz früher das Wasser bergab geschossen und über dem Mühlgraben wieder herausgekommen war. Dort hatte es das Mühlrad zum Drehen gebracht. Schön musste das gewesen sein. Später hatte es dann kein Mühlrad mehr gegeben, sondern eine Maschine im Keller, eine Turbine, und zu der war das Wasser durch eine Rohrleitung geflossen. Aber das war auch schon lange vorbei, viele Jahre, bevor Mama die alte Mühle gekauft hatte.
Schade, dass es das Wasser und das Mühlrad nicht mehr gab. Wenn da unten im finsteren Graben neben dem Haus lustig ein Mühlrad klappern würde, dann wäre er nicht mehr so unheimlich. Und vielleicht würde das Klappern ja auch Mama aufwecken, wenn sie wieder so stumm war …
Lara kletterte aus dem Kanal und setzte sich auf eine Mauer. Von hier oben hatte sie einen guten Blick auf die Mühle. Hier würde sie hören, wenn Mama endlich nach ihr rief.
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