Kinder- und Jugendroman, Edition Gegenwind, BoD Norderstedt 2020
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Inhalt
Alles ist auf einmal ganz anders. Aja muss mit ihrer Mutter in eine andere Stadt ziehen und erfahren, dass ihr Vater eine neue Familie gründet. Außerdem wohnt sie mit ihrer Mutter nun auch noch bei dieser alten Tante Hildegard im Haus. Doch zum Glück gibt es Djamila, die ebenfalls neu in die Klasse kommt, und Milene. Und dann ist da noch jemand …
Langsam fasst Aja Fuß. Und mehr und mehr zieht die Geschichte von Tante Hildegard sie in ihren Bann, die als Kind am Kriegsende ihre Heimat verlor und schließlich eine neue gewann.
Eine Geschichte vom Ankommen.
Über die Entstehung
Die Flüchtlingsströme der letzten Jahre riefen in mir das Interesse an der Vergangenheit meiner eigenen Familie wach, die 1945 vertrieben wurde, und so begann ich mich intensiv mit Flucht und Vertreibung am Ende des 2. Weltkriegs zu beschäftigen. Immer mehr ging es mir dabei auch um das Ankommen, das Fuß Fassen in der neuen Heimat. Daraus entstand die Idee, eine Geschichte über das Ankommen zu schreiben und danach zu suchen, was auf verschiedenen Ebenen Heimat ausmacht, und dabei die Gegenwart mit der Vergangenheit zu verknüpfen.
Rezensionen
Die elf Jahre alte Aja zieht unfreiwillig von Bayern ins Rhein-MainGebiet. Ihre Eltern haben sich getrennt, die Familie ist in Auflösung. In dieser turbulenten Umbruchs-Situation kommt es ihr so vor, als ob die ganze Welt gegen sie ist. Sie ist oft bockig – und hasst sich dann selbst am meisten. Allmählich gewinnt sie aber zwei Freundinnen, die noch viel existenzieller mit Umbruchs-Erfahrungen zu kämpfen hatten: Da ist ihre Mitschülerin Djamila. Sie ist aus Syrien geflohen. Man ahnt: Sie hat Schreckliches erlebt, auch wenn sie nicht viel darüber spricht. Und da ist Ajas Tante Hildegard, bei der Aja mit ihrer Mutter nun wohnt. Tante Hildegard hat nicht immer ein beschauliches Leben in einem kleinen Häuschen geführt, sondern ist als junges Mädchen am Ende des Zweiten Weltkrieges aus Schlesien geflohen. Gespräche mit Djamilia und Hildegard relativieren für Aja ihre eigenen Probleme. Auch wenn diese nicht kleingeredet werden. Noch wichtiger find ich: Aja erkennt, was sie mit Djamila und Tante Hildegard verbindet. Denn jeden kann es treffen, mit drastischen Umbrüchen im Leben konfrontiert zu werden. Und jeder braucht dann Solidarität und Unterstützung. […] Ich finde es einfach schön, wie im Roman „Aja“ zwar eindringlich über Flucht und andere existenzielle Umbrüche berichtet wird, wie aber vor allem beschrieben wird: Menschen können an einem neuen Ort ankommen und neue Freundinnen und Freunde finden.
Christoph Schäfer, hr1 Zuspruch vom 26.01.2021, zitiert mit freundlicher Erlaubnis des Autors. Der vollständige Beitrag findet sich hier.
Eine Geschichte vom Ankommen, steht auf der Buchrückseite. Ein 11-jähriges Mädchen, Aja, erlebt, dass sich die Eltern trennen, die Mutter mit ihr eines Berufswechsels wegen umzieht und sie von ihrer Freundin Ronja wegmuss und im Haus einer alten Tante leben, die – wie sie bald erfährt – als 10-jährige von Breslau nach Bayern geflüchtet ist und dort nicht nur die Ablehnung der Dorfbewohner sondern auch ihre beinah unverständliche Mundart ertragen muss.
Aja trifft mit Djamila in dem neuen Ort zusammen und geht mit ihr in die Schule, wo sie Freundschaft schließen und sich auch außerhalb der Schule treffen.
Ihr Vater heiratet erneut und zieht mit der neuen Frau aufs Land – weg von dem Ort, wo auch die Freundin Ronja wohnt – und dann bekommt die Frau ein Kind und Komplikationen damit
Aja durchlebt eine Berg-und-Talfahrt der Gefühle und Stimmungen. Aber sie erfährt, dass Vorurteile trügerisch sein können. Vergleiche zwischen der Tante und ihrem Schicksal und der aus Aleppo geflüchteten Djamila drängen sich ihr auf.
Sie merkt immer wieder, wie gut es ihr geht – im Vergleich.
Beyerlein hat dieses Wechselbad der Gefühle bis hin zu einer sich anbahnenden Schwärmerei für den Bruder einer bewunderten Mitschülerin, Milene, einfühlsam und psychologisch stimmig geschildert. Und immer wieder – wie ich es von ihr kenne – die Perspektive gewechselt und Zeitsprünge eingefügt, wodurch der Kontrast zwischen den Lebensbedingungen von Hildegard 1945, der alten Tante, in dessen Haus sich Aja zunehmend daheim fühlt, und Aja in der Jetztzeit plastisch hervortritt.
Ein Buch der Erinnerung ebenso wie eins der Mahnung, sich nicht auf Klischees zu verlassen, sondern jeden einzelnen Geflüchteten achtsam und wertschätzend wahrzunehmen. Nicht nur für Jugendliche ab 10 Jahren, sondern auch durchaus für Erwachsene, nicht nur für Eltern.
Prof. Dr. Eberhard Ockel, zitiert mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
Gabriele Beyerlein, mehrfach preisgekrönte Autorin von Jugendbüchern mit historischem Hintergrund, legt mit „Aja oder Alles ganz anders“ nach mehreren Jahren Pause ein neues Kinderbuch vor. Mit sehr viel Verständnis für die Denkweise einer frischgebackenen Sechstklässlerin schildert die Autorin Ajas selbstbewusst wirkendes, so bockiges wie lautstarkes Gezeter als dünnen Firnis über darunter liegende Verlustängste. Auch wenn Aja schließlich die Notwendigkeit für das Geldverdienen ihrer Mutter einsieht, ist da auch noch ihr Vater, der mit seiner neuen Frau ein Kind erwartet. Wegen seines neuen Hauses im Grünen zieht er nun ebenfalls aus dem vertrauten Geburtsort Ajas weg und hat kaum noch Zeit für Aja. Jeder Anknüpfungspunkt zu ihrem früheren Leben scheint sich in Luft aufzulösen.
Hierzu zieht Beyerlein sehr geschickt zwei weitere Ebenen ein, von der man auf den ersten Blick meinen könnte, sie überfordern 11- oder 12-jährige noch. Doch das Zusammentreffen mit Kindern, die wie Djamila mit ihren Eltern aus Syrien fliehen mussten, sind auch für diese Altersgruppe längst alltäglich. Ohne damit Ajas Nöte als vernachlässigbar zu relativieren, gelingt es der Autorin, einen altersgemäßen Bezug herzustellen – weil Aja selbst eigene Verluste kennengelernt hat, kann sie die Verluste der ihr anfangs sehr fremd erscheinenden Djamila zumindest bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Die zweite, nämlich historische Ebene wird Aja durch ihre Großtante Hildegard nahegebracht – sie hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs erst ihren Vater und dann ihre Heimat unwiederbringlich verloren. Ihre mit jeweiligem Ort und Datum überschriebenen Erlebnisse aus Hildegards damaliger Kindersicht bilden im Wechsel zu Ajas aktueller Situation einen eigenen, sehr spannungsreichen Erzählstrang. Dank Beyerleins wunderbar eingängiger Erzählweise erzeugt er einen Ajas Geschichte erweiternden Echoraum, der dem in der angedachten Zielgruppe beginnenden Verständnis für Historisches angemessen Rechnung trägt und nicht überfrachtet. Denn auch wie Aja diese Geschehnisse aufnimmt, macht sie zu einer überzeugenden Identifikationsfigur. Ajas Sorgen werden viele Kinder nachvollziehen können, um sich dann mit ihr gemeinsam auch auf Anderes und damit Neues einzulassen.
Ein echtes Mutmachbuch also, das so anregend wie unterhaltsam ist – und auch dazu verhelfen kann, über den Tellerrand der aktuellen Beschränkungen durch den Coronavirus zu schauen.
Ulrich Karger, Büchernachlese, April 2020, Auszug zitiert mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. Vollständige Rezension zu lesen unter https://buechernachlese.de/archiv/uk_beyerlein_gabriele_aja-oder-alles-ganz-anders.html
Leseproben
Mich fragt ja keiner. Mama nicht und Papa nicht. So war es schon vor Jahren, als Papa daheim ausgezogen ist und meine Eltern einfach festgelegt haben, dass ich bei Mama bleibe – und jetzt ist es wieder so. Nur mit dem Unterschied, dass ich damals ohnehin bei Mama sein wollte, weil es eben Mama war und ich noch klein war und Ronja gleich nebenan gewohnt hat.
Aber wenigstens diesmal hätte Mama mich nach meiner Meinung fragen können. Und Papa auch. Ich hätte jedenfalls Nein gesagt. Zu beiden.
Mama hat einen neuen Job angenommen, als wäre das allein ihre Sache. Als müsste ich dafür nicht mit ihr in eine andere Stadt ziehen. Dabei habe ich mich doch gerade in unserer Klasse so richtig wohl gefühlt und wurde endlich von der Whatsapp-Gruppe akzeptiert, zu der ich schon immer gehören wollte. Aber jetzt muss ich die Schule wechseln, mitten im Schuljahr. Darauf könnte ich echt verzichten.
Und als wäre das nicht schon schlimm genug, hat Mama beschlossen, dass wir zu ihrer alten Tante ziehen. Das sei doch toll, hat Mama behauptet, weil sie ja in Zukunft ganztags arbeiten würde, dann sei immer jemand da, wenn ich aus der Schule käme. Von wegen toll! Als ob ich einen Babysitter bräuchte! Noch dazu einen, der schon bald scheintot ist. Wahrscheinlich ist es eher umgekehrt, aber das sagt Mama natürlich nicht.
Und was Papa angeht … Das will mir überhaupt nicht in den Kopf.
„Können wir nicht erst was unternehmen, bevor du mich ablieferst?“, frage ich ihn. „Pizza essen zum Beispiel.“
„Geht nicht“, sagt er. „Deine Mutter wartet auf dich. Und Claudia auf mich.“
„Claudia, natürlich. Die ist dir ja wichtiger als ich.“
Papa schaut kurz zu mir, dann wieder angestrengt auf die Straße. Dabei ist gar kein Verkehr in diesem langweiligen Wohngebiet, durch das wir fahren. „Ach, Aja!“ Er seufzt übertrieben. „Du weißt, wie es mich immer freut, mit dir zusammen zu sein. Aber es war abgemacht, dass ich dich heute Vormittag bei deiner Mutter abliefere. Und Abmachungen muss man einhalten.“
„Es sind nicht meine Abmachungen, sondern deine! Aber klar, geh du nur zu deiner Claudia und liefere mich in dem blöden Haus von dieser blöden Tante ab!“
„Was ist denn so blöd an dem Haus und an Tante Hildegard?“
„Alles“, sage ich. Und dann nichts mehr. Weil es ja doch nichts ändert. Und weil ich das, was zu sagen wäre, nicht über die Lippen bringe.
„Nun sei mal nicht so“, redet er mir zu, als wäre ich eine kranke Kuh, „das Haus ist doch total schön. Und dann der große Garten! Und Tante Hildegard hat vielleicht ein paar Eigenheiten, aber im Grunde ist sie eine liebe alte Dame. Deine Mutter hat ihr viel zu verdanken. Als sie sechzehn war und ihre Mutter gestorben ist und ihr Vater längst in Argentinien gelebt hat, hat Tante Hildegard sie bei sich aufgenommen, damit sie nicht nach Argentinien auswandern musste. Das weißt du doch. Da will sich deine Mutter jetzt eben ein wenig revanchieren. So ein alter Mensch sollte nicht allein leben, das musst du verstehen. Außerdem – was das an Miete spart! Und jetzt sind wir da.“ Er bremst und parkt ein, schaltet den Motor ab. „Soll ich dir deine Tasche reintragen?“
„Das kann ich schon allein.“ Ich steige aus und hole mein Gepäck von der Rückbank.
Eine Woche, während Mama den Umzug gemanagt hat, war ich bei ihm. Er hat sogar ein paar Tage freigenommen und wir haben Ausflüge unternommen und sind ins Kino und Shoppen und so. Hier sind ja Herbstferien und ich war in meiner alten Schule schon abgemeldet. So konnte ich blaumachen, einen Vorteil muss man ja haben, wenn man zu allem Übel auch noch das Bundesland wechseln muss. Aber jetzt ist die Schonfrist vorbei. Ich werfe mir die Tasche über die Schulter und öffne das Gartentor.
„In vierzehn Tagen zum Wochenende!“, ruft er mir nach. „Und grüße Steffi und Tante Hildegard!“ Ich antworte nicht. Wie ich sie kenne, kann meine Mutter auf seine Grüße verzichten. Erst recht, wenn sie schon wüsste, was ich weiß.
Ich bleibe stehen, drehe mich um, will noch einmal zurück zu Papa. Er kann doch nicht einfach so, wir haben gar nicht darüber geredet …
Das Auto startet und fährt los. Er ist weg.
Ich kicke gegen einen Kieselstein, dass er nur so davonfliegt. Ich hätte ihm sagen müssen, dass er das nicht bringen kann, einfach eine neue Familie zu gründen. Dass ich schließlich seine Familie bin und dass ich ihn doch brauche. Und dass ich auch in Zukunft mit ihm allein sein will, wenn ich meine Wochenenden bei ihm habe. Ich habe es vermasselt.
Und jetzt muss ich auch noch hier einziehen.
Unkraut wächst zwischen den Steinen auf dem Weg. Haufenweise liegt Herbstlaub herum. Der Garten ist verwildert. Das Haus ist nicht besser. Der Stuck blättert von der Fassade ab. Da kann ich mir schon denken, was meine neuen Klassenkameradinnen für ein Gesicht machen, wenn sie erfahren, wo ich wohne.
Ich steige die ausgetretenen Steinstufen zum Eingang hinauf, drücke auf den rostigen Klingelknopf. Sofort geht die Tür auf. Mama steht da, in ihren ältesten Klamotten. Sie hat ein völlig ausgeleiertes graues T-Shirt mit dunklen Schweißflecken an und ihre Haare gehörten eindeutig gewaschen. Wenn ich sie so sehe, wundert es mich nicht, dass Papa gegangen ist. Claudia ist durchgestylt bis zum Letzten. Bald zieht Papa zu ihr, dann muss ich sie jedes zweite Wochenende aushalten.
„Hallo, Aja, mein Schatz, da bist du ja“, sagt Mama und will mich umarmen. Schnell trete ich einen Schritt zurück. „Na, dann komm mal rein! Am besten sagst du gleich deiner Tante Grüß Gott.“
„Ich denke, hier sagt man nicht Grüß Gott“, antworte ich und werfe die Tasche auf den Treppenabsatz. „Außerdem ist sie nicht meine Tante, sondern deine!“
Mama seufzt. Es klingt eher wie ein Stöhnen. Soll sie doch.
Immerhin folge ich ihr durch die Diele in das Zimmer mit der Glastür. Lilien sind in das Glas eingraviert, das ist mir bisher nie aufgefallen. Dafür kommt mir etwas anderes bekannt vor: der Geruch nach alten Sachen. Ich hasse diesen Geruch.
„Da ist ja unsere Kleine“, höre ich eine Stimme vom Fenster her. Die Sonne blendet, ich kann Tante Hildegard kaum sehen, aber jedenfalls sitzt sie dort in einem Sessel. „Aber was sage ich – Kleine! Groß bist du geworden, ich kenne dich ja kaum wieder, fast schon eine junge Dame. Nun komm doch mal her!“
Ich gehe zu ihr hin. Sehe genau, dass sie mir ihre Wange hinhält, damit ich ihr einen Kuss gebe. Das fehlt gerade noch! Ich reiche ihr die Hand. „Hallo, Tante Hildegard.“
„Willkommen in meinem Haus“, sagt sie.
Daran hätte sie mich nicht erinnern müssen, dass das Haus ihr gehört. Man riecht es.
„Steffi hat in den letzten Tagen hier schwer geschuftet“, sagt Tante Hildegard und lächelt meiner Mutter zu. „Das ganze Haus hat sie umgeräumt und es mir hier unten richtig gemütlich gemacht. Ich bewohne künftig nur das Erdgeschoss, ich komme ja die Treppe sowieso kaum mehr hoch. Na ja, so ist das nun mal. Du kriegst mein Lieblingszimmer im ersten Stock, das große mit dem Erker und dem Balkon. Da freust du dich, oder?“
Ich erinnere mich genau an das Zimmer. Dunkelrote Samtvorhänge und verschnörkelte Möbel und Perserteppiche und lauter solcher altmodischer Kram. „Und wie“, murmle ich.
Mein Zimmer daheim war nichts Besonderes. Aber es war meins.
„Komm, ich zeige es dir gleich“, sagt Mama eifrig. Sie nimmt mich allen Ernstes an der Hand und zieht mich hinter sich her. Meine Tasche lasse ich auf dem Treppenabsatz liegen. Vielleicht haue ich nachher einfach ab. Geld für den Zug habe ich einstecken und den Schlüssel von Papas Wohnung. Und Papa bleibt bestimmt über Nacht bei seiner Claudia. Da merkt er gar nicht, wenn ich bei ihm einziehe. Und wenn Mama ihn anruft, weil ich weg bin und nicht an mein Handy gehe und sie sich Sorgen macht, dann denkt er vielleicht endlich mal darüber nach, wie das alles für mich ist. Und sie auch.
„Ich bin gespannt, was du für ein Gesicht machst!“, verkündet Mama. Plötzlich trompetet sie los: „Tatatataa!“, und öffnet theatralisch die Zimmertür. Sie merkt überhaupt nicht, wie peinlich sie ist.
Mama macht mir Platz und ich stehe auf der Schwelle und sehe mein neues Zimmer.
Wow! Da hängen keine dunkelroten Gardinen mehr, die Sonne scheint durch die breite Glastür, die auf einen winzigen Balkon führt. Draußen im Garten leuchtet der Ahorn. Die alten Möbel und Teppiche sind weg, mein Schreibtisch steht da, meine Schrankwand, mein Hochbett und ein cooles neues Sofa. Da kann Ronja schlafen, wenn sie mich besucht. Das Schönste an dem Zimmer aber ist der Erker mit den hohen Fenstern an jeder der drei Seiten ¬– und vor allem die Hängematte aus bunten Stoffstreifen, die zwischen seinen Ecken gespannt ist. Da lässt sich chillen! So eine Hängematte habe ich mir schon immer gewünscht, aber in meinem alten Zimmer war kein Platz dafür, und außerdem hat Mama gesagt, das wäre zu teuer. Aber in Zukunft arbeitet sie ja ganztags, da kann sie sich so was leisten.
Ich gehe zu der Hängematte hin und schubse sie an. Mein liebster Bär sitzt darin. Meine anderen Stofftiere habe ich zum Umzug ausrangiert, aber von dem Teddy konnte ich mich nicht trennen. Papa hat ihn mir vor drei Jahren geschenkt, als er bei uns ausgezogen ist. Bald schenkt er ganz jemand anderem Stofftiere.
„Na, was sagst du?“, fragt Mama stolz.
Ich muss mich räuspern. „Ganz okay“, bringe ich heraus. Dann hole ich meine Tasche.
(Aja oder Alles ganz anders, Edition Gegenwind 2020, Seite 5 – 11)
Hildegard, Breslau 1945:
„Wach auf, Kind, wach auf!“ Die Mutter rüttelte sie an der Schulter. Verschlafen blinzelte Hildegard gegen das helle Deckenlicht. Nur mühsam orientierte sie sich: Sie lag nicht in ihrem Bett, sondern in dem ihres Vaters im elterlichen Schlafzimmer. Ihr eigenes Zimmer war ja von Flüchtlingen belegt. Lange war sie am Abend nicht eingeschlafen, die Unruhe im Haus durch die vielen fremden Menschen und hustenden Kinder hatte sie wachgehalten und mehr noch eine Angst, sie konnte nicht sagen, wovor.
Aus dem Haus drangen aufgeregtes Stimmengewirr und das Brüllen eines Säuglings.
„Was ist?“, murmelte sie schlaftrunken.
„Wir müssen fliehen!“, stieß die Mutter hervor, rote Flecken hatten sich auf ihren sonst so blassen Wangen gebildet. Die Türen des großen Kleiderschrankes standen offen, Kleidungsstücke waren auf das Bett der Mutter geworfen, aufgeklappte Koffer lagen bereit.
„Wir?“, fragte Hildegard ungläubig. Flüchtlinge, das waren die anderen.
„Alle Frauen, Kinder und Alten müssen die Stadt verlassen, jeder, der nicht kämpfen kann. Der Stadtkommandant hat den Befehl erlassen. Breslau wird zur Festung erklärt! Das heißt, die Soldaten und die Männer des Volkssturms und die älteren Hitlerjungen müssen um Breslau kämpfen bis zum letzten. Alle anderen haben noch heute aus der Stadt zu verschwinden.“
„Aber, aber, wo sollen wir denn hin?“, stammelte sie.
„Ich weiß es nicht. In der Straße nach Kant soll sich ein Treck ins Sudetenland sammeln, dem schließen wir uns an. Hör zu, Hildegard, pass genau auf: Zieh doppelte Unterwäsche übereinander, deine wärmsten Sachen. Die Angora-Unterwäsche, die du zum Skifahren hast, und die langen wollenen Unterhosen und zwei Paar Wollsocken übereinander. Auch die wärmste Oberbekleidung, deine Skihose und den guten Pullover, den du Weihnachten bekommen hast, und darüber den Norwegerpullover. Zum Glück ist der Lammfellmantel gestern Abend geliefert worden, gerade noch rechtzeitig.“
Die Mutter rang hörbar nach Luft, dann sprudelte sie weiter hervor: „Nimm zwei Paar Handschuhe und deinen langen Schal. Eine Fellmütze bekommst du von mir. Es ist bitterkalt. Und in deinen Rucksack pack die Sachen, die dir am wichtigsten sind, aber nur den einen Rucksack und nicht zu schwer, hörst du! Du musst es tragen können, verstehst du, vielleicht einen sehr weiten Weg. Die wichtigsten Erinnerungsstücke und Wäsche zum Wechseln pack ein, vor allem lange Wollstrümpfe und einen Rock. Vergiss den Ring von deinem Vater nicht und ein paar von seinen Karten und das letzte Foto. Mach schnell, Hildegard, um Himmels willen mach schnell!“
Wie betäubt schälte Hildegard sich aus dem warmen Federbett, stand auf. „Aber unsere Scharführerin hat gesagt, der Krieg kommt nicht bis nach Breslau!“
„Was weiß die schon!“ Die Mutter riss hektisch Bettwäsche aus dem Schrank, wühlte in einer Schublade.
Doch plötzlich drehte sie sich zu Hildegard um und zog sie an sich, drückte sie, presste ihren Kopf an ihre Brust und flüsterte rau: „Wir müssen zusammenbleiben, Hildegard. Was auch immer geschieht, wir müssen ganz fest zusammenbleiben, versprich mir das!“
„Ja, Mutti. Ja.“
Der eisige Wind, den sie lange im Rücken gehabt hatte, blies nun von der linken Seite, biss in ihre Wange, trieb ihr die Tränen in die Augen. Die Kälte trocknete sie wieder weg. Sie spürte ihre Füße kaum mehr. Schritt für Schritt schleppte sie sich vorwärts, kam auf der festgetretenen Schneedecke ins Rutschen, fing sich wieder. Weiter. Vor ihr Tausende von Menschen. Hinter ihr Tausende von Menschen, Frauen und Kinder, Kinder, Kinder.
Neben ihr die Mutter und Frau Winkler und Else. Irgendwo in dieser endlosen Kolonne ging vielleicht auch Marie-Louise, sie wusste es nicht. Sie hatte die Freundin beim Sammelpunkt nicht gesehen, es waren ja unübersehbar viele Menschen gewesen. Jetzt konnte sie nicht nach ihr suchen, sie hatte doch versprochen, bei der Mutter zu bleiben. Wenn sie Glück hatten, fanden Marie-Louise und sie einander in einem der nächsten Nachtlager wieder: in einer Scheune, einem Schulhaus oder auf dem Dachboden eines Hauses, in dem sie für ein paar Stunden Unterschlupf erhielten, geschützt wenigstens vor dem Wind, wenn schon kaum vor der Kälte.
Am Wegrand stand ein verlassener Kinderwagen, ein Bündel darin. Sie wusste, was das bedeutete. Sie drehte den Kopf weg. Schon wieder ein erfrorenes Baby. Wenn sie den Fellmantel nicht hätte, läge sie vielleicht jetzt auch da neben der Straße, begraben in einer Schneewehe.
Sie war so müde. Unendliche Mühe kostete es sie, die Füße zu heben, sie schlurfte nur noch. Der Strick des Schlittens, den sie hinter sich herzog, schnitt durch beide übereinander gezogene Handschuhe in ihre Haut. Else und sie zogen Schlitten, die Mutter und Frau Winkler Handwagen, die Mutter den kleinen, die Hauswirtschafterin den großen.
„Ich kann nicht mehr“, flüsterte Hildegard. Niemand hörte es. Noch ein Schritt, noch einer. Sie schwankte, nahm alle Kraft zusammen, schrie: „Ich kann nicht mehr!“ Die Mutter fasste gerade rechtzeitig nach ihrem Arm, ehe Hildegard zusammensackte.
„Komm auf den Wagen“, sagte Frau Winkler und hob sie hoch, als wiege sie nichts, platzierte sie oben auf ihrem Handwagen auf all den festgeschnürten Koffern, Taschen und Bündeln und hüllte sie in eine Decke. „Eine Weile darfst du da sitzen und dich erholen. Aber nicht zu lang, sonst wird dir zu kalt. Deinen Schlitten binden wir hinten dran.“
„Danke, Frau Winkler“, murmelte Hildegard. Die Augen fielen ihr zu. Der Kopf sackte ihr auf die Brust. Dann riss der Husten sie wieder hoch.
„Nicht schlafen!“, rief die Mutter und tätschelte im Gehen Hildegards Wangen. „Wer bei der Kälte einschläft, wacht vielleicht nicht mehr auf!“ Ihre Stimme klang schrill.
Frau Winkler warf sich mit aller Kraft nach vorn, um das schwere Gefährt vom Fleck zu bekommen. Der Wagen wankte. Hildegard klammerte sich fest. Wenn nur endlich das nächste Dorf käme. Im nächsten Dorf blieben sie über Nacht, hatte es geheißen, dort würde es eine Kartoffelsuppe geben, wie immer. Vor wenigen Tagen noch war sie es gewesen, die Suppe an Flüchtlinge ausgeschenkt hatte …
(Aja oder Alles ganz anders, Edition Gegenwind 2020, Seite 63 – 68)