Roman. Wenz Verlag 2025
Softcover. 336 Seiten.14,95 €. ISBN 978-3-937791-70-1
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Inhalt
Wenn du wissen willst, warum ich tat, was ich getan habe, so muss ich lange vor deiner Geburt beginnen. Ich muss dir von meiner Kindheit erzählen. Doch selbst da gab es ein Davor“, schreibt Marlene ihrer Tochter.
Noch vor Marlenes Geburt muss ihre Mutter Emma 1945 aus Schlesien fliehen, Pfarrer Heinrich Wied-müller verliert als Soldat inmitten der Gräuel des 2. Weltkriegs seinen Glauben und Halt und Marlene hat das Trauma ihrer frühen Kindheit vergessen, aber es wirkt in ihr fort.
Ebenso fesselnd wie bewegend erzählt der Roman von den Schicksalen und Überlebensstrategien der drei, von ihren durch Krieg, Flucht, Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch geschlagenen seelischen Wunden und von Marlenes Weg der Befreiung.
Über die Entstehung
Rund 10 Jahre hat es von der ersten Idee für den Roman bis zu seinem Erscheinen gedauert, unterbrochen von großen Pausen, in denen ich mich mit anderen Projekten befasst habe. Viele Phasen hat der Roman in dieser Zeit durchlaufen und verschiedene Einflüsse haben dabei eine Rolle gespielt.
Die Flüchtlingskrise 2015 rückte das Thema Flucht, Vertreibung und Integration ins Zentrum gesellschaftspolitischer Diskussionen. So begann ich mich mit dem Thema zu befassen und mich in diesem Kontext auch intensiv mit der Flucht und Vertreibung von Millionen Deutscher am Ende des 2. Weltkriegs zu beschäftigen.
Der andere aktuelle Themenbereich, der meine Arbeit an diesem Roman beeinflusste, war die durch den Jesuiten Klaus Mertens im Jahr 2010 angestoßene Debatte über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, die in den 2010er Jahren durch zahlreiche Enthüllungen immer mehr Fahrt aufnahm. Auch wenn inzwischen längst Missbrauchsskandale aus anderen gesellschaftlichen Bereichen und der evangelischen Kirche bekannt wurden, hatte sich für mich der katholische Pfarrer Heinrich Wiedmüller bereits als Täter herauskristallisiert
Doch jenseits aller Recherche und Überlegungen entstand der Roman im Prozess des Schreibens aus einer tieferen Schicht.
Leseprobe
Wo liegt der Ursprung einer Geschichte, in welchen vergangenen Zeiten?
So weit zurück ich auch gehe, Schicht um Schicht abtrage, immer ist ein Davor.
Eins folgte aufs andre, Schicksal, Verhängnis, Verbrechen: eben erst Opfer, nun selbst Täter?
Wer stellt sich der Schuld?
Ungehört weinen die Kinder.
Untrennbar verknüpft mit der kleinen Geschichte die große.
Nicht jede Wunde wird geheilt durch die Zeit – und manch eine Wunde, im Verborgenen schwärend, wird weitergegeben von Generation zu Generation. Unerkannt.
[… ]
[Aus Teil 1, EMMA, Kapitel 1.2, Januar 1945 in Schlesien]
Mitten in der Nacht klopfte es dröhnend an der Haustür. Emma fuhr hoch, tapste im Dunkeln aus der Kammer, traf im Flur auf den Vater und die Tante. „Wer da?“
„Kinder, wir machen weg! Wir treffen uns morgen früh um sieben vor der Kirche!“, hörten sie durch die geschlossene Tür die Stimme des Herrn Pfarrer. „Packt das Nötigste zusammen, vor allem warme Decken und Pelze, und ordentlich Essensvorräte, eure Papiere und Schmuck oder kleinere Wertgegenstände, nur, was sich leicht mitnehmen lässt! Einen Kochtopf und Zündhölzer nicht vergessen! In Gottes Namen brechen wir auf, Richtung Görlitz. Und so Gott will, kehren wir bald zurück.“
Sie hätte doch auf den Herrn Pfarrer hören sollen. Und auf die Tante. Aber als sie da in der eisigen Dunkelheit ihren hochbepackten Schlitten zur Kirche gezogen und die kleine Hilde so entsetzlich gehustet hatte, da war es ihr unmöglich erschienen, mit den anderen den Weg nach Westen anzutreten. Die Bauern hatten Pferde und Wagen oder Karren, aber sie! Zu Fuß! Die Kinder würden erfrieren. Das Thermometer war unter 20 Grad Minus gesunken.
Wie ein Fingerzeig war es ihr erschienen, als es geheißen hatte, dass das Bähnchen nach Breslau noch fuhr, und als sich eine kleine Gruppe abgespalten hatte, um zum Bahnhof zu stapfen. Sie hatte sich ihnen mit Ida und den Kindern angeschlossen, voll verzweifelter Hoffnung, in Breslau Schutz und Aufnahme zu finden. Als sie im Bähnchen gesessen hatte – sie hatte mit Glück einen Sitzplatz ergattert –, die fiebernde Hilde auf dem Schoß, den stillen, tapferen Franz fest an sich gedrückt, Ida im Gang auf dem Schlitten mit ihren zusammengeschnürten Habseligkeiten, da hatte sie gedacht, sie seien gerettet. Und nun!
Breslau heillos überfüllt mit Flüchtlingen, die sich unendlich langsam mit ihren Wagen und Wägelchen, Schlitten und Kinderwagen über die Oderbrücken quälten und durch die Straßen schoben. Schreckliche Bündel am Straßenrand: die Leichen erfrorener Kinder, steif wie Puppen, in Decken gehüllt. Das Haus ihrer Herrschaft verlassen und abgeschlossen. Hätten sie nicht Unterschlupf im Gemeindehaus einer Kirche gefunden – es war eine evangelische, aber wer fragte jetzt danach –, sie hätte nicht gewusst, wohin. Eine Schwester, unterstützt von zwei BDM-Mädchen, hatte Kartoffelsuppe und Tee ausgeschenkt. Dicht an dicht hatten sie sich auf den Boden gelegt, der Fellmantel ihres Vaters, den dieser ihr zum Abschied aufgedrängt hatte, ersetzte ihnen die Matratze. Und wieder hatte sie geglaubt, das Schlimmste sei überstanden. Aber jetzt diese Durchsage. Aus den öffentlichen Lautsprechersäulen dröhnte das Unfassbare: Sie mussten Breslau verlassen. Frauen mit Kindern und Schwangere sofort raus aus der Stadt, so lautete der Befehl, in der Südvorstadt sollten sie sich sammeln, an der Straße Richtung Kanth. Breslau wurde zur Festung erklärt, würde sich der Roten Armee entgegenstellen und sich nicht ergeben bis zum letzten Atemzug, und alle, die nicht kämpfen konnten, mussten fliehen, nach Sachsen oder ins Sudetenland.
Vom Freiburger Bahnhof fuhren noch Züge nach Westen, hieß es. Die letzten, ehe Breslau abgeriegelt wurde und keiner mehr reinkam und keiner mehr raus.
Zum Bahnhof, zum Bahnhof!
Menschenmassen wälzten sich durch die Straßen, schleppten Koffer und Bündel, zogen Schlitten und Karren, schoben Kinderwagen und Schubkarren, Frauen, Alte und Kinder, Kinder, Kinder. Seltsam, wie ruhig sie waren. Hilde und Franz gaben keinen Ton mehr von sich. Je näher sie dem Bahnhof kamen, desto bedrohlicher wurde das Gedränge, von allen Seiten strömten die Menschen heran und stauten sich vor dem breiten Eingang. Doch immer neue Massen schoben von hinten nach. Emma wurde es angst. Wenn die Kinder zerquetscht wurden! Sie zog ihre kleine Schar in eine Hauseinfahrt. „Ida“, sagte sie atemlos, „wir lassen den Schlitten zurück. Ich befestige dir das Bündel auf dem Rücken und mir auch. Und Hilde binde ich mir vor die Brust. Wir tragen jede einen Koffer mit dem Nötigsten. Franz, hör her, das ist sehr wichtig: Ich nehme dich an der einen Hand und Ida nimmt dich an der anderen. Du musst uns festhalten. Und niemals, hörst du, niemals darfst du loslassen! Wir müssen unbedingt zusammenbleiben, verstehst du?“
„Ja, Mama!“, bestätigte der Junge ernst.
„Ida?“
Die Schwester nickte. „Wir halten den Franz zwischen uns und bleiben dicht beieinander.“ So sicher ihre Worte klangen, in den Augen des Mädchens flackerte Angst.
Wieder stürzten sie sich ins Gedränge, wurden geschoben, gedrückt, schafften es in die Bahnhofshalle, sahen durch die offene Tür den Zug, kein Personenzug war es, ein Güterzug mit Viehwaggons!
„Der letzte Zug! Der letzte Zug!“ Der Ruf ging durch die Menge, jeder wollte hinein, keiner zurückbleiben, Panik kam auf, blindlings versuchten alle voranzukommen, Kinder fielen hin und wurden niedergewalzt, Mütter schrien gellend, die Lokomotive pfiff. Noch zwanzig Meter bis zur rettenden Waggontür, rücksichtslos kämpften die Menschen um die letzten Plätze, hinaufkletternde Frauen wurden wieder herabgezerrt, Kinder stürzten auf die Gleise.
Emma wurde unerbittlich von hinten geschoben, doch es war nach vorn kein Millimeter Platz, ihr Gesicht wurde in den Rucksack der vor ihr stehenden Frau gedrückt, die kleine Hilde zwischen ihr und dem Gepäckstück eingequetscht. Emma ließ den Koffer fallen, versuchte mit dem freien Arm ihre Tochter abzuschirmen, hielt verzweifelt die Hand ihres Sohnes umklammert. Da links von ihr, ein Pfeiler, unter Aufbietung aller Kräfte schaffte sie es, dahinter Schutz vor der nachdrängenden Masse zu finden, versuchte, Franz dicht neben sich zu ziehen. Doch da, mit brachialer Gewalt traf sie auf einmal ein Schlag am Arm, ein SS-Offizier bahnte sich mit dem Gewehrkolben einen Weg durch die Menge, ihre Hand, taub von dem Schlag, öffnete sich, der SS-Offizier zog zwei Damen in Pelzmänteln hinter sich her, andere Frauen stürzten sich in die Schneise, die er schlug, Franz, wo war Franz? Und Ida?
Von der Seite drückte der Pulk, schob sie mit unaufhaltsamer Macht weg von dem Pfeiler, weg von der Stelle, wo sie Sohn und Schwester verloren hatte. Emma schrie. Ihr Schreien ging unter im allgemeinen Geheul. Im Pfeifen und Puffen der Lokomotive, im Rattern der Räder. Der letzte Zug aus Breslau fuhr ab. Die Menge lichtete sich. Am Rand des Bahnhofsgeländes fand Emma sich wieder. Orientierungslos irrte sie umher, suchte verzweifelt nach Franz, nach Ida, fragte, erhielt keine Antwort. Überall Frauen, die zwischen den liegengebliebenen Habseligkeiten, Handwagen und Schlitten hindurchstolperten. Versprengte Kinder, die nach ihren Müttern weinten. Mütter, die wie sie ihre Kinder suchten. Hochschwangere, bei denen die Wehen eingesetzt hatten. Verletzte. Und Tote. So viele, viele tote Kinder, niedergetrampelt, zerquetscht, unter die Räder gekommen.
Und dort – Franz.
(Seite 5 und 24 – 27)
