Vorgeschichtliches Kinderbuch (Bronzezeit), Thienemann 2007 (erstmals Arena 1991). Ab 10 Jahren. Nicht lieferbar.

Inhalt

Eine Katastrophe scheint auf das kleine Dorf zuzukommen, in dem die zwölfjährige Mara lebt. Unaufhaltsam steigt der Seespiegel und bedroht das Dorf, brandschatzende Horden suchen das Land heim und die in der Not um Hilfe angerufenen Götter haben das Sonnwendopfer verschmäht. In dieser verzweifelten Situation entschließt sich Maras Onkel, der Dorfvorsteher, zum Äußersten: Er will seinen jüngsten Sohn opfern. Doch Mara liebt ihren kleinen Vetter. Sie will, sie muss das Unfassbare verhindern. Mutig macht sie sich auf den Weg, um Camos zu suchen, den Priester, Kriegerfürsten und Freund ihres verstorbenen Vaters, den Einzigen, der vielleicht helfen kann.

Die packende Abenteuergeschichte um Mara und ihre gefährliche Reise basiert auf archäologischen Funden und Forschungen und entführt die Leser ins 9. Jht. v. Chr zur „Wasserburg Buchau“ und zu verschiedenen süddeutschen Höhenburgen der ausgehenden Bronzezeit.

Erstmalig bereits im Jahr 1991 erschienen, ist das Kinder- und Jugendbuch im Thienemann Verlag mit einem aktualisierten Nachwort neu aufgelegt worden, in dem der neueste Stand der archäologischen Forschung dargelegt wurde.

Über die Entstehung

Die Erzählung ist im Jahr 1990 entstanden. Damals hatte ich begonnen, mich mit der Bronzezeit in Deutschland zu beschäftigen. Ich las eine Reihe von Fachbüchern aus purem Interesse, ohne dass sich daraus die Idee zu einem Roman ergab. Dann stieß ich darauf, dass sich am Ende der Bronzezeit, in der späten Urnenfelderzeit, das Klima stark veränderte, und auf einmal hatte ich das Gefühl: Das geht mich an. Seit der Kyoto-Konferenz war das – heute allgegenwärtige – Thema des Klimawandels und seiner Verursachung in mein Bewusstsein gerückt. Ich fragte mich, wie die Menschen der Vorzeit wohl mit der Beobachtung umgegangen sein mochten, dass das Klima sich langfristig änderte, der Grundwasserspiegel stieg, Flüsse und Seen über die Ufer traten. Machte es ihnen Angst? Versuchten sie die Veränderung ihres Lebensraumes aufzuhalten? War deshalb die späte Urnenfelderzeit durch so viele und wertvolle Opfergaben gekennzeichnet, beispielsweise durch Brandopfer, bei denen im Laufe der Zeit ganze Tierherden geopfert wurden?
Dann stieß ich bei meiner Recherche auf die sog. „Wasserburg Buchau“, eine Siedlung in Oberschwaben, die durch den steigenden Seespiegel im Federsee versunken war. Das weckte Assoziationen an die Sage vom Untergang von Atlantis – und auf einmal hatte ich Feuer gefangen. Als ich dann im Federseemuseum in einer Vitrine die Schädel einiger Kinder sah, die bei der Ausgrabung am Rand der Siedlung entdeckt worden waren, fragte ich mich, ob diese Kinder womöglich Menschenopfer gewesen sein könnten, die getötet worden waren, um den Untergang des Dorfes aufzuhalten. Auch wenn es für solche Menschenopfer am Federsee nicht den geringsten Beweis gibt – durch diese Frage entstand in mir die Idee zur Geschichte von Mara, die versucht, die Opferung ihres kleinen Vetters zu verhindern.

Leseproben

[Nachdem das Sonnwendopfer in einem Gewittersturm erloschen und im Sturm ein Teil des Dorfes im See versunken ist, sind die Menschen im Dorf davon überzeugt, dass ihre Götter sich von ihnen abgewendet haben und sie den Geistern der Tiefe ausgeliefert sind. Mara belauscht heimlich eine Versammlung der Männer im Haus ihres Onkels Vicos und hört ihn sprechen:]

„Nur die Götter selbst können verhindern, dass die Geister der Tiefe das Seeungeheuer zu unser aller Verderben erwecken und loslassen. Doch welche Hoffnung bleibt uns nun, da die Götter sich von uns gewendet haben, da Er, unser Gott, uns verlassen hat? Was bleibt uns noch zu tun? Womit können wir das Verhängnis aufhalten?«
Der Onkel schwieg. Keiner sagte etwas. Doch war nicht in diesem Schweigen schon die Antwort?
Schließlich sprach er weiter: »Ja, ihr wisst es und ich weiß es. Nur eines gibt es, was die Mächte der Finsternis besänftigen kann, nur eines gibt es, womit ein Mensch ihnen entgegentreten kann, nur eines gibt es, was sie abhalten kann das Seeungeheuer zu wecken, um unsere Insel und uns alle zu verschlingen: Wir müssen ihnen geben, was sie mehr begehren als alles andere …«
Er stockte und sprach dann sehr rasch, laut und hart weiter: »Und darum habe ich beschlossen, ich in meiner Aufgabe als euer Oberhaupt, dass wir den Mächten der Tiefe opfern, um sie zu besänftigen. Mit Opfern an Schmuck und Waffen lässt sich ihr Wohlwollen nicht länger erkaufen. Sie verlangen mehr von uns, Wertvolleres. Sie verlangen das Äußerste. Der Sturm war ihre letzte Warnung. Ihre Forderung nach dem Leben eines Kindes.«
Mara stöhnte auf.
O nein!
Das war doch nicht möglich! Noch nie da gewesen!
Ein Kind.
Im letzten Herbst war ein Kind im See ertrunken. Da hatten die Erwachsenen geflüstert, die Geister der Tiefe hätten es sich geholt … Aber ihnen freiwillig zu geben, wonach sie verlangten!
So groß war also die Not, so groß die Verzweiflung.
Oder hatte sie es falsch verstanden? Hatte Onkel Vicos es nicht so gemeint?
Sie hatte nicht mehr auf die Stimmen im Nebenraum geachtet. Nun lauschte sie wieder.
»Wer soll dies Opfer bringen?«, fragte eben der Nachbar.
Onkel Vicos antwortete und jetzt klang seine Stimme fremd und metallen: »Ich. Wer sonst! Ich bin euer Oberhaupt und der, der die priesterlichen Aufgaben zu erfüllen hat. Mein Reichtum ist größer als eurer – und meine Pflicht. Ihr braucht mich nicht daran zu erinnern, ich weiß, dass ich selbst es bin, der es tun muss. Im Herbst, wenn die dunkle Zeit beginnt, das Halbjahr der dunklen Mächte, zur Tagundnachtgleiche, werde ich das Opfer vollbringen. Meinen Sohn. Ich habe nur einen, der das richtige Alter dafür hat: Litos. Ja, ich werde Litos töten und im Schlamm des Grabens vor unserer Uferbefestigung versenken. Ihn für euch alle! Und bis zu dem Tag, an dem dies geschehen muss, werdet ihr darüber schweigen, ein Vierteljahr lang unverbrüchlich schweigen! Verflucht sei jeder in Zeit und alle Ewigkeit, der nicht bis dahin schweigt über das, was er hier gehört hat!«
Plötzlich schrie er: »Und nun geht! Verlasst mein Haus! Geht und sagt jetzt um Himmels willen kein Wort mehr, kein einziges Wort!«
Die Männer standen auf und gingen still hinaus. Mara aber, im Nebenraum, glitt von der Bank, krümmte sich am Boden zusammen, schlug die Hände vor das Gesicht.
Litos!
Nicht Litos! Das nicht!
Die Stimme des Onkels, der Schmerz darin, die Entschlossenheit.
Er würde es tun. Er würde Litos töten.
Aber das durfte doch nicht geschehen!
Wenn sie nur etwas tun könnte! Mit jemandem reden!
Aber da war keiner.
Sie durfte es ja gar nicht wissen, nur die Männer. Und sie durfte nicht darüber reden, denn auch ihr galt der Fluch.
Wenn nur der Vater noch leben würde!
Würde er es zulassen?
Ein Kind töten.
Das Seeungeheuer.
Da sprengte der Riese die Ketten und kein Gott gebot ihm Einhalt und er stand auf aus der Tiefe des Meeres. Da tat sich das Meer auf und verschlang die Königliche Insel in einer einzigen Nacht.
Nur das wertvollste Opfer konnte Rettung bringen. Ein Kind. Wenn schon ein Kind, dann eben ein anderes, aber nicht Litos!
Doch Litos. Onkel Vicos’ eigener Sohn.
Aber es musste doch eine andere Möglichkeit geben die Mächte der Tiefe zu besänftigen!
Oder zu bannen?
Nun verschonten die Götter sie mit ihrem Zorn und fesselten noch einmal den Riesen, senkten den Schlaf auf seine Lider, ein letztes Mal.
Die Hilfe der Götter. Des Einen.
Aber Er hatte das Opferfeuer umgestoßen und ausgelöscht. Er hatte den geopferten Stier verschmäht. Er hatte ihre Lieder nicht gehört. Er hatte sie verlassen.
Gab es denn niemanden, der Ihn anrufen konnte, Ihn bewegen, ihnen gegen die Geister der Tiefe zu helfen?
Wenn Camos da wäre! Wenn sie mit Camos reden könnte! Camos würde wissen, was zu tun war.
Auf Camos würde Onkel Vicos hören.
Er musste kommen, er musste einfach. Das würde er doch einsehen, dass er ihnen jetzt beistehen musste!
Onkel Vicos, der Einzige, der darüber sprechen durfte, würde es ihm sagen, und er würde es sich anhören und lange schweigen und dann würde er erklären, was sie tun sollten, ohne Litos zu opfern.
Und bleiben, bis alles wieder gut war.
»Alles wieder gut«, flüsterte sie vor sich hin.
Aber wer sollte ihn holen?
Sie konnte ja niemandem sagen, was sie wusste!
Wie sollte sie jemanden dazu bringen, hinter Camos herzureiten und ihn zu bitten zu ihnen zurückzukehren?
Oder sollte … sollte … ?
Die Tür ging auf, die Mutter trat herein, fand sie am Boden vor, sagte verwundert: »Aber Mara, warum liegst du nicht im Bett, sondern kniest am Boden? Komm, Kind, ich weiß, es war alles ganz schrecklich für dich, der Sturm und das Verlaufen im Moor und die Zerstörung überall, aber du musst doch schlafen, leg dich hin, neben mich!«
Mara gehorchte. Die Mutter legte den Arm um sie. Doch Mara fühlte sich nicht geborgen.
Nur einer könnte ihr jetzt Sicherheit geben, nur einer.
Wäre er nur da!
Sie konnte nicht einschlafen. Ihr Kopf war so schwer und alles ging darin durcheinander: Litos und der See und die Götter und der gefesselte Riese und die Geister der Tiefe und das Seeungeheuer und Litos und Onkel Vicos und Camos …
»Mutter«, frage Mara leise, »weißt du, wo Camos wohnt?«
»Camos? Weit weg von hier, im Nordosten. In einer großen Burg, der Callmosburg. Warum willst du das wissen?«
»Weil«, sie stockte, sprach dann überstürzt weiter, »weil wir ihn doch brauchen, weil er uns doch helfen muss, jetzt, wo das Unglück geschehen ist, mit dem Opferfeuer und dem See und … und … und ich will …«
»Camos? Was hat das mit Camos zu tun? Wie kommst du nur auf einen solchen Einfall! Lass die Dummheiten, Mara, und schlaf, du bist ja ganz durcheinander! Kein Wunder nach der letzten Nacht und diesem Tag! Nein, sag nichts mehr, ruhig, Kind, schlaf!«

[Mara schläft nicht in dieser Nacht. Heimlich macht sie sich, als Junge verkleidet, auf, um Camos zu Hilfe zu holen, den Priester, Kriegerfürsten und Freund ihres verstorbenen Vaters. Doch sie ahnt nicht, was für ein weiter, schwerer und gefahrvoller Weg vor ihr liegt …]

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