Gemeinsam mit Herbert Lorenz. Vorgeschichtliches erzählendes Sachbuch (Jungsteinzeit). Arena 1988. Ab 12 Jahren. Unterrichtserarbeitung von M. Sénécheau in „Zum Lesen Verlocken“ (Peter Conrady, Hrsg.), Materialien für den Unterricht in der Sekundarstufe, Arena-Verlag.

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Inhalt

Fassungslos steht der junge Steinzeitjäger Dilgo vor dem Dorf der Ackerbauern. Wäre da nicht das Mädchen Mirtani, hätte er vermutlich sofort die Flucht ergriffen. Trotz ihrer scheinbaren Überlegenheit müssen die Dorfbewohner schließlich erfahren, dass ihnen nur der Jäger aus den Wäldern helfen kann zu überleben.

Leseproben

Dilgo, ein Heranwachsender aus einer Gruppe von Jägern und Sammlern, muss während seiner „Probe“ eine Zeit fernab von seiner Gruppe ganz allein im Wald verbringen. Erstmalig sieht er dabei ein Dorf der nach der neuen Weise lebenden Bauern, von deren Existenz er bislang nichts wusste, und lernt das Bauernmädchen Mirtani kennen. Dilgo und Mirtani freunden sich insgeheim an. Nach einem Streit mit ihrer Tante läuft Mirtani von Zuhause weg und lebt für einige Tage mit Dilgo im Wald. Um heimlich ihre Schwester zu treffen, nähern sich Dilgo und Mirtani dem Dorf.

Plötzlich blieb Dilgo stehen und machte Mirtani ein warnendes Zeichen. Sie stockte. Kam da vielleicht einer aus ihrem Dorf? Nein, sie hörte nichts von Menschen, aber etwas anderes: einen schauerlichen Ton, ein furchtbares, entsetzliches Heulen.
„Was ist das?“, flüsterte Mirtani erschrocken.
„Ein verletzter Wolf. Er muss schreckliche Schmerzen haben. Komm!“
Mirtani wollte Dilgo zurückhalten, aber er war schon losgelaufen, genau in die Richtung, aus der das Heulen kam. Widerstrebend folgte sie ihm. Sie kamen in einen lichten Eichenwald. Das Heulen wurde immer lauter. Dilgo rannte so schnell, dass Mirtani nicht mitkam. Als sie ihn eingeholt hatte, kniete er am Boden unter einer Eiche.
Mirtani näherte sich vorsichtig. Sie sah Dilgo über die Schulter. Sie sah den herabgestürzten Felsbrocken und das zuckende Hinterteil des Wolfes. Sein Vorderteil war nicht zu sehen. Es war unter dem Stein begraben. Festgeklemmt lag der Wolf da, mit zerschmetterten Schultern. Also hatte er geklappt – es war ihrem Vater und ihrem Bruder gelungen, einen Wolf in der Falle zu fangen.
Dilgo zog sein Messer vom Gürtel. Er schob es unter den Leib des Wolfes. Dann stieß er kräftig zu.
Das Heulen verstummte. Das Zucken hatte ein Ende.
Dilgo stemmte sich gegen den Steinbrocken und versuchte ihn wegzuheben. Es ging nicht. Der Stein war zu schwer. Da stand Dilgo auf und drehte sich zu Mirtani um.
Mirtani erschrak: Sein Gesicht war blass und von Tränen überströmt. Seine Augen waren fast schwarz und sein Ausdruck ganz fremd. Was hatte er nur?
Heiser sagte er: „Es ist eine Wölfin. Sie hat Milch in den Zitzen. Jetzt werden ihre Jungen verhungern.“ Und plötzlich schrie er los: „Das wart ihr! Ihr! Ihr! Was seid ihr bloß für Menschen! Wie könnt ihr nur so grausam sein, so hinterhältig und so gemein!“
Mirtani starrte ihn an. Was war in ihn gefahren? Wie konnte er sie so anschreien, ihr solche Dinge an den Kopf werfen? Zorn stieg in ihr auf, aber sie versuchte sich zu beherrschen. Mühsam sagte sie: „Aber wir müssen uns doch gegen die Wölfe wehren. Wir müssen sie ausrotten!“
„Ausrotten?“, schrie Dilgo, nun vollends außer sich. Er packte Mirtani an den Schultern und schüttelte sie heftig. „Ausrotten? Heißt das, dass ihr alle Wölfe hier im Wald auf diese niederträchtige Art umbringen wollt?“
Mirtani wand sich aus seinem Griff. Was fiel Dilgo ein, so mit ihr umzuspringen! „Ja, das heißt es! Die Wölfe reißen unsere Ziegen und unsere Kälber! Wir lassen uns doch unsere Tiere nicht von den Wölfen auffressen!“
Dilgo ließ sie los. Er schrie jetzt nicht mehr, seine Stimme war ganz kalt und voller Hass: „Eure Tiere! Es gibt keine Tiere, die euch gehören! Tiere gehören nicht den Menschen! Tiere gehören sich selbst. Aber davon habt ihr ja keine Ahnung!“
„Du hast keine Ahnung!“ Nun konnte sich Mirtani nicht mehr halten. „Du hast keine Ahnung, wie viel Mühe es macht, die Rinder und Ziegen zu hüten und zu schützen und ihre Pferche zu bauen und dafür zu sorgen, dass sie im Winter genug zu fressen haben! Das ganze Laub, das dafür gesammelt werden muss! Und dann kommt so ein Rudel Wölfe und frisst unsere Tiere! Unsere Tiere, jawohl! Aber von denen verstehst du ja nichts!“
„Ach, ich verstehe nichts von Tieren? Ich lebe nur mit ihnen, als ob sie meine Brüder und Schwestern wären! Aber richtige Tiere, nicht solche widersinnigen Zerrbilder wie eure Rinder! Ein Auerochse, das ist ein wirkliches, ein herrliches Tier, aber wozu habt ihr ihn gemacht! Ihr macht ja alles kaputt. Alles, was ihr in die Hand nehmt, zerstört ihr! Die Auerochsen. Die Wölfe. Den Wald. Wenn ich sehe, was ihr aus diesem Wald gemacht habt, kann ich nur heulen. Zerstörung, nichts als Zerstörung! Und darauf seid ihr auch noch stolz!“
„Nun hab dich bloß nicht so mit deinem Wald! Der Wald ist riesengroß. Was macht es da, wenn wir ein Stück roden! So etwas Lächerliches, was sollen ein paar gefällte Bäume schon schaden! Du bist nur neidisch, weil ihr das nicht könnt! Nichts könnt ihr! Ihr könnt keine Bäume fällen und keine Häuser bauen, ihr könnt keine Tiere züchten und keine Gefäße töpfern, und ihr könnt schon gar nicht einen Acker bestellen und Getreide ernten und Korn mahlen und Brot backen! Ihr seid so stolz darauf, dass ihr euch so gut an Tiere anschleichen könnt und seltene Pflanzen findet! Was ist das schon! Das können die Tiere auch! Aber was wir machen, das können nur Menschen. Nur wir! Nicht ihr!“
Dilgo war leichenblass geworden. Stumm stand er da und sah Mirtani fremd an. „So ist das also“, sagte er leise.
„Ja, so ist das! Wenn ich denke, dass ich für dich so leben wollte wie du! Ohne Haus und ohne meine Familie und ohne Brot! Aber das ist vorbei. Zum Glück! Geh du in deinen Wald und zu deinen Wölfen! Die liebst du ja doch mehr als mich!“ Damit drehte sie sich um und lief davon.
Dilgo stand wie vom Donner gerührt. Endlich rannte er ihr nach. „Mirtani“, schrie er.
Sie blieb stehen und fuhr ihn an: „Lass mich! Ich will dich nicht mehr sehen! Ich gehe zurück zu meiner Familie! Und nie mehr, hörst du, nie mehr will ich dich wieder sehen.“

(Seite 106-108)