Mit Bildern von Tilman Michalski. Verlag an der Este 2010 (erstmals erschienen unter dem Titel „Gabriele Beyerlein erzählt vom Mittelalter“ im Oetinger Verlag 1992). Ab 8 Jahren.

Inhalt

Wenn wir das Wort „Mittelalter“ hören, denken wir zuerst an Ritter, Burgen und prachtvolle Turniere. Dabei lebten damals die meisten Menschen in den Dörfern und wachsenden Städten. Sie bestellten das Land, arbeiteten als Handwerker und Tagelöhner.
In drei Episoden erzählt Gabriele Beyerlein vom Leben dieser Menschen: von armen Bauersleuten, von Rittern und edlen Damen, von Handwerkern, Kaufherren und reichen Bürgerfrauen – vor allem aber von ihren Kindern.

Rezensionen

„Hier wird ein Stück Geschichte liebevoll vermittelt und macht gewiss neugierig.“ (Hannoversche Allgemeine Zeitung 23.9.1993)

Leseprobe

Im Dorf
Die dicke Fliege summte über dem Topf mit der Milchsuppe. Dann ließ sie sich am inneren Rand des Topfes nieder und krabbelte der Suppe entgegen.
Anna hatte Hunger. Aber sie durfte noch nicht essen. Erst wurde gebetet. Anna legte die Hände zusammen und murmelte wie die anderen die Worte mit, die der Vater laut vorsprach.
„Amen“, sagte nachdrücklich der Vater. „Amen“, stimmten alle ein.
Der Vater nahm seinen Holzlöffel und tauchte ihn in den Suppentopf auf dem rohen Tisch. Die Fliege summte davon. Der Vater rührte in der dickflüssigen Suppe aus Milch, Brot und grobem Roggenmehl, hob den Löffel bedächtig heraus. Ein dicker Klumpen Haut hing daran.
Jetzt fuhr der erste Knecht mit seinem Löffel in die Milchsuppe, dann der zweite und schließlich kam Veit, Annas großer Bruder. Seit Ostern durfte er auf der Männerbank sitzen. Die Frauen und die Kinder standen den Männern gegenüber am Tisch.
Nach der Mutter, der Tante und der Magd war endlich Anna an der Reihe. Sie fischte mit ihrem Holzlöffel einen Brotbrocken aus der Suppe. Die Mutter hatte das Roggenbrot zerhacken müssen, so hart war es. Es war schon fast sechs Wochen alt, aber in der Suppe wurde es wieder weich. Anna schmeckte es gut. Als letzter war Annas kleiner Bruder Hannes dran. Er stand auf einem Schemel am Tisch. Trotzdem musste er sich auf die Zehenspitzen stellen, um den gemeinsamen Topf zu erreichen. Dann begann die Reihe von Neuem. Keiner sprach ein Wort.
Anna fröstelte. Kühle Morgenluft drang zur offenen Tür herein. Die Sonne war eben erst aufgegangen. Anna war müde. Jetzt im Sommer waren die Nächte kurz und schon im ersten Morgengrauen hatte die Mutter sie aus dem Schlaf gerüttelt. Wie jeden Morgen hatte Anna bereits im Stall beim Melken helfen müssen.
Als der Topf geleert war, leckte jeder seinen Löffel sorgfältig ab und wischte ihn am Kittel blank. Der Vater sprach das Dankgebet. Dann teilte er die Arbeit ein: „Heute müssen außer Anna alle aufs Feld zur Ernte. Wir haben nur noch zwei Tage Zeit! Anna macht die Hausarbeit. Auf geht’s!“
Anna presste die Lippen zusammen: allein die ganze Hausarbeit! Also würde sie auch heute keinen einzigen Augenblick spielen können. Aber eigentlich war das gleich, seit ihre Freundin Lisa nicht mehr da war. Vor Wochen war sie mit ihrer ganzen Familie verschwunden. Einfach verschwunden, in der Nacht nach der Beerdigung von Lisas Großvater. Ohne Lisa machte das Spielen keinen Spaß. Und es gab so viel Arbeit.
Die Getreideernte war immer anstrengend. Aber in diesem Jahr war es besonders schlimm. Der Vater hatte mit seinem Ochsengespann die Gerstengarben von den Klosterfeldern genau in den Tagen in die Scheunen der Klosterbrauerei einfahren müssen, als die Erntezeit für seinen eigenen Winterroggen begonnen hatte. Dem Kloster gehörte der Grund und Boden, den der Vater zur Pacht hatte. Die Fronarbeit, der Dienst, den er dafür dem Kloster zu leisten hatte, ging seiner eigenen Arbeit vor. Deshalb war nun die Zeit knapp. Jedem Bauern blieben nur wenige genau festgelegte Tage zum Bestellen und Abernten seiner Felder. Der Heinerbauer wartete darauf, mit seinem Wagen über ihr Feld fahren zu können, um an seinen Roggen zu gelangen. Und ein paar Tage später wollte der Kuhhirt schon die Herde auf die abgeernteten Felder treiben.
„Anna, du weißt, was zu tun ist!“, sagte die Mutter. „Und sei mir ja pünktlich zum Mittagsläuten mit dem Essen auf dem Feld! Und pass auf Hannes auf!“ Hinter den anderen hastete sie zur Tür hinaus.

(Anna räumt im Haus auf und mistet den Stall aus.)

Müde kam Anna wieder in der Küche an. Hannes saß auf der Männerbank und spielte. Die Holzlöffel waren Ochsen, mit denen er das Feld pflügte.
„Was fällt dir ein!“, rief Anna. „Runter von der Männerbank! Du kannst auch etwas arbeiten! Los, geh in die Scheune und such die Eier! Aber pass auf!“
Anna bereitete aus eingeweichtem Roggenschrot und Wasser den Brei vor und stellte den Topf auf dem niedrigen Herd neben die nur noch schwach glimmende Glut. Höchste Zeit, Holz nachzulegen! Sie suchte im Korb Reisig und dünne Äste zusammen. Da kam Hannes laut weinend zur Tür herein. Er hielt sein halblanges Hemdchen wie einen Beutel vor sich.
Anna sah sofort: Acht schöne Eier lagen darin, aber das neunte war zerbrochen. Das Eiweiß lief an Hannes‘ nackten Beinen hinab. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst aufpassen!“, schrie sie ihn an. Wenn das die Mutter erfuhr!
Hannes weinte noch lauter. Sie nahm ihm die heilen Eier ab, legte sie vorsichtig in einen flachen Korb und schob Hannes vor sich her aus der Tür, zwischen Wohnstallhaus und Scheune hindurch, am Gemüsegarten vorbei und durch das Gatter im Zaun zum Bach hinunter. Hannes hatte aufgehört zu weinen und saugte den Eidotter aus seinem grob gewebten Leinenhemd. Anna zog es ihm aus, wusch im Bach die verräterischen Spuren weg und befahl ihm: „Du hältst den Mund, verstanden! Wir sagen einfach, mehr Eier haben wir nicht gefunden!“ Aber wohl war ihr dabei nicht.
Anna hängte das Hemd zum Trocknen über den Hofzaun. Jenseits des Baches, hinter dem Zaun vom Heinerhof, glänzten in einem Baum die allerletzten dunkelroten Kirschen. „Die will ich haben!“, forderte Hannes.
Anna schüttelte den Kopf.
„Pflück sie mir!“, sagte er.
„Lass mich in Ruhe! Wenn uns der Heinerbauer erwischt, prügelt er uns!“, erwiderte Anna. Aber auch sie sah mit sehnsüchtigem Blick nach den Kirschen. Gut mussten sie sein, so überreif! Ihre eigenen Kirschen waren längst abgeerntet. Vielleicht würde es ja keiner merken?
Sie schaute zum Hof des Heinerbauern. Der Hund trottete über den Platz. Der kannte sie, würde sie nicht verbellen. Hühner scharrten herum, eine Katze leckte sich die Vorderpfoten. Sonst regte sich nichts. Nur aus dem Rauchloch am Dachfirst kam Rauch.
Rauch – das Feuer! Sie hatte ihr Feuer vergessen! Wenn nun die Glut ganz verloschen war – es dauerte lang, ein neues Feuer anzuzünden.
Anna rannte ins Haus. Es war noch Glut da. Sie atmete auf. Mit Mühe gelang es ihr, das Feuer wieder zu entfachen. Nun wurde es aber Zeit! Während der Brei heiß wurde, lief sie hin und her, hängte Kleidungsstücke auf die Holzhaken an der Wand, stellte herumliegende Geräte auf Wandborde, packte die Löffel und ein Tuch in einen Korb, holte zwei Tonkrüge mit Bier und rührte immer wieder den Brei. Dann schob sie die Asche von den heißen Herdsteinen und buk darauf flache Fladen aus Teig, den die Mutter vorbereitet hatte. Schnell lief sie in den Hof, prüfte den Sonnenstand, stellte beruhigt fest, dass sie noch etwas Zeit hatte. Zurück in die Küche, noch mehr Fladen backen, den Brei mit Milch und Butter verfeinern, die Fladen in den Korb werfen, für den Vater ein Stück Speck abschneiden, den Brei in eine Schüssel füllen, die Bierkrüge einpacken: Bald würde es zu Mittag läuten. Nein, der Korb war zu schwer, den konnte sie nicht tragen. Hannes musste ihr einen Krug abnehmen.
„Hannes!“, rief sie. Nichts regte sich. Wo war Hannes? Sie lief auf den Hof, schaute über den Platz, den Zaun entlang, zum Hoftor, zum Gemüse- und Obstgarten, rief immer wieder. Vergebens.
Wann hatte sie ihn eigentlich zum letzten Mal gesehen? Am Bach!
„Und pass auf Hannes auf!“, hörte sie im Innern die Stimme der Mutter. Ihr wurde heiß. Ein Stück bachabwärts lag die Klostermühle! Das große Mühlrad! Wenn Hannes da hineingeraten war!

Seite 7 – 10 und 13 – 19