Märchenroman. Thienemann 2003. Ab 12 Jahren.

Inhalt

Prinzessin Aimee ist verzweifelt. Niemand schenkt ihr Glauben, dass ihr etwas fehlt. Sie weiß ja selbst nicht, woher dieses Gefühl in ihrer Brust stammt, aber es wird immer größer. Als sie nachts nicht einschlafen kann und grübelnd am Fenster steht, hört sie plötzlich eine rätselhafte Stimme, die ein kalter Hauch aus dem Wald am Schloss herüberträgt: „Aimee, hilf mir! Hilf dir!“ Wer kann dies nur sein? Und was kann es bedeuten, dass sie sich selbst helfen soll? Ob sie sich verhört hat?

Über die Entstehung

Die Suche nach dem eigenen Selbst, nach der inneren Wahrheit, die Auseinandersetzung mit den großen Lebensaufgaben, das sind Themen, die in der Pubertät erstmals aufbrechen und die sich mir gegenwärtig auf anderer Ebene wieder neu stellen. Was also liegt näher, als sie zum Thema eines Jugendbuches zu machen? In der das Unbewusste spiegelnden Bilderwelt märchenhafter Verdichtung habe ich dafür eine zeitlose Ausdrucksform gefunden, von der ich mich selbst mitnehmen lassen konnte. Inspiriert wurde ich dabei durch die indische Lehre von den Energie-Zentren im menschlichen Körper, denen die verschiedenen Elemente und dazugehörige Farben zugeordnet sind und die mit bestimmten Lebensaufgaben in Beziehung gesetzt werden. Es sind dies Aufgaben, wie sie Aimee auf ihrem langen Weg durch die Farben des Regenbogens begegnen.

Leseproben

Eines Tages wachte Prinzessin Aimee auf und spürte, dass ihr etwas fehlte. Dass ihr schon immer etwas gefehlt hatte. Und dass sie von nun an nicht mehr würde leben können ohne dieses Etwas, was auch immer es sei.
Ein Gefühl war es, tief innen in der Brust, als sei ihr da etwas herausgerissen worden und habe ein schwarzes Loch hinterlassen. Oder eine große Wunde. Aber Aimee hatte kein Loch in der Brust und keine Wunde.
Nur dieses Gefühl.
Hätte sie eine Freundin gehabt, mit der sie darüber sprechen konnte, oder eine Schwester! Aber da war niemand, keine Gefährtin, keine Vertraute. Den Umgang mit gewöhnlichen Kindern hatte der König ihr verboten – denn eine Prinzessin dürfe nicht mit Kindern spielen, die nicht ihresgleichen seien – und Geschwister hatte Aimee nicht.
Aimee hatte nur eine Lehrerin und eine Kinderfrau und den König und die Königin, ihre Eltern. Und leider auch den Offizier, der ihr laut Befehl des Königs auf Schritt und Tritt folgte, sobald sie das Schloss verließ und in den Park ging, und der aufpasste, dass niemand ihr zu nahe kam und dass sie nicht der Mauer oder dem Tor des verbotenen Gartens zu nahe kam, jenes Garten, den zu betreten der König jedermann bei Todesstrafe untersagt hatte.
An anderen Tagen beschäftigte dieser geheimnisvolle Garten Aimees Phantasie – denn man durfte ihn nicht nur nicht besuchen, man durfte auch nicht von ihm sprechen – und heimlich betrachtete sie von den Schlossfenstern aus die Baumwipfel hinter der Mauer. Doch seit sie die Wunde in ihrer Brust spürte, konnte sie an nichts anderes mehr denken als an das, was ihr fehlte und was sie nicht kannte.

Aimee versucht mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, doch diese versteht sie nicht sondern fürchtet, dass Aimee krank sei, und lässt sie vom Leibarzt untersuchen. Ihr Vater glaubt, Aimee habe Krankheit vorgetäuscht, um ihre Mutter zu ängstigen, und sperrt sie zur Strafe in ihrem Zimmer ein.

Blutig und rund tauchte der Mond hinter dem tiefen Wald am Horizont auf. Langsam stieg er höher, erhellte sich zu leuchtendem Silber und verzauberte die fortschreitende Nacht. Seine Strahlen spielten mit dem Blattwerk der Baumriesen im Park und ließen die sanften Wellen im Schlossteich glitzern. Längs der Wege, an denen bei Tage blühende Büsche gestanden hatten, duckten sich nun geheimnisvolle Gestalten. Irgendwo heulte ein Wolf, kam es nicht aus der Richtung des verbotenen Gartens? Eine Eule schrie: „Uhuu, Uhuuu!“ Und dann, von ganz ferne –
Aimee lauschte. Was war das für eine Stimme, leise, kaum wahrnehmbar, eine Stimme, die sie nicht kannte und die ihr doch so seltsam vertraut erschien? Die Stimme eines Mädchens? Ein kühler Lufthauch trug den heimlichen Klang aus den Tiefen des Waldes zu ihr herüber: „Aimee! Aimee! Warum hörst du mich nicht? Suche mich! Finde mich! Hilf dir, Aimee!“
Hilf dir? Nein, da musste sie sich verhört haben. Hilf mir!
Wer war es, der da um Hilfe rief, aber nicht nach irgendjemandem, sondern nach ihr, nur nach ihr?
Aimee schauderte.
„Aimee!“, verhallte noch einmal fast unhörbar die ferne Stimme.
Hilf mir.
Wie sollte sie helfen, wenn sie eingesperrt war und das Zimmer nicht verlassen konnte? Wie sollte sie jemanden bitten, in den Wald zu gehen und nach jenem verirrten Mädchen zu suchen, wenn sie mit niemandem reden konnte?
„Hilf!“, hauchte es vom Horizont.
Im Mondschein glänzte der Kiesweg, der zum Wald führte.

(Seite 5-6 und 14-15)