Vorgeschichtliches Kinder- und Jugendbuch (minoisches Kreta). Thienemann 2010 (erstmals erschienen bei Dressler 1999). Ab 11 Jahren.

Inhalt

Ismene kann es kaum fassen: Auf Befehl ihres Bruders soll sie auf die ferne Insel Kreta ziehen, um dort den Platz der Prinzessin Phaidra einzunehmen. Und das nur, weil er diese Frau heiraten will! Trotz aller Bedenken lebt sie sich in der Fremde erstaunlich gut ein. Sie genießt es, dass hier die Frauen eine ganz andere gesellschaftliche Stellung haben. Doch dann macht sie einen folgenschweren Fehler …

Rezensionen und Auszeichnungen

„Das Feuer von Kreta“ war im Jahr 2000 nominiert für den Zürcher Kinderbuchpreis und den Preis der Jury der jungen Leser.

In ihrer Rezension schreibt Erika Schleifer über das Buch, die geschichtliche Erzählung aus der Vorzeit entwerfe „ein lebendiges Bild zweier konträr gearteter Kulturen“ und setze „Menschen zwangsläufig gegensätzlicher Prägung in Beziehung zueinander“. (Die Neue Bücherei 2000/3-4).

Gabriele Aichele hebt hervor, Ismenes Geschichte, „die zugleich die Geschichte einer Emanzipation“ sei, sei „mitreißend und glaubwürdig erzählt“. (ekz-Informationsdienst 11/99).

Lea Braun findet „gleichzeitig mit einem dichten historischen Roman“ in dem Buch ein „spannendes Plädoyer für Toleranz und die Gleichberechtigung der Frau“. (Der Evangelische Buchberater 1999/4)

Leseproben

(Iseme, junge Königstochter aus Mykenai, ist Vollwaise und wächst bei ihrer Tante Aerope auf, der Frau von Onkel Machaon. Dieser, der Zweite König von Mykenai, hat mit den Kriegern von Mykenai jahrelang in Ägypten gekämpft. Als er nach Mykenai zurückkehrt, bringt er viele Geschenke mit – und Sklaven, die wie Ismenes Sklavin und Freundin Kalli aus dem Volk der Hyksos stammen, gegen das er in Ägypten gekämpft hat. Mit der Rückkehr Onkel Machaons bekommt Ismene zu spüren, was es bedeutet, in einer Welt zu leben, in der allein die Männer das Sagen haben und Frauen und Kinder nur gehorchen müssen.)

Die Tante ließ sich schwerfällig auf die Knie nieder und begann in dem Korb zu kramen. »Vorsicht!«, sagte der Onkel. »Das ist zerbrechlich, und es wäre mir äußerst ärgerlich, wenn du nur Scherben in Händen hieltest!«
Gorgo (Ismenes kleine Kusine )drängte sich neugierig neben ihre Mutter.
Die Tante schlug ein Tuch zurück und hob vorsichtig eine große Kanne heraus. Diese hatte eine wunderbar geschwungene Form, und vor allem war sie in warmen hellen, braunen und roten Farben mit leuchtenden Mustern bemalt, mit Pflanzen und Blumen, die so lebendig schienen, dass Ismene fast meinte, sie wachsen zu sehen. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Sie konnte die Augen gar nicht mehr davon wenden.
»Wunderbar!«, rief die Tante.
Der Onkel nickte. »Es ist ein Geschenk des Minos von Knossos. Beim Gastmahl im Palast hat man Wein daraus eingeschenkt, das ganze Geschirr war eine einzige Pracht, aber ich mochte meine Bewunderung nicht zeigen. Doch diese Kanne recht schön zu nennen, konnte ich mich nicht enthalten. Da hat der Minos sie mir …«
»Der Minos?«, fragte Gorgo dazwischen. »Was ist das, ein Minos?«
Der Onkel hob die Augenbrauen und sah das Mädchen scharf an. Schwieg.
Unsicher steckte Gorgo einen Finger in den Mund und begann unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Habe ich recht gehört?«, sagte der Onkel endlich. Ein gefährlicher Ton schwang in seiner Stimme. »Du unterbrichst mein Gespräch mit deiner Mutter, redest mir einfach dazwischen?«
Gorgo starrte ihn verstört an. Ihre Unterlippe begann zu zittern.
»Wenn ein Mann spricht, darf man ein Mädchen sehen, aber nicht hören! Hat dir das deine Mutter nicht beigebracht?«, fragte der Onkel schneidend.
Tante Aerope wurde rot. »Schon«, murmelte sie entschuldigend und legte Onkel Machaon bittend die Hand auf den gewaltigen Unterarm. »Natürlich habe ich das. Aber verzeih ihr, bitte, es ist so neu für sie, dass ihr Vater daheim ist, und sie ist doch noch so jung!«
»Nicht zu jung, um von mir höchstpersönlich eine ordentliche Tracht Prügel zu bekommen, wenn sie sich noch einmal so ungehörig benimmt!«, erklärte der Onkel umgerührt. Und dann sagte er streng zu Gorgo: »Hast du mich verstanden?!«
Gorgo stammelte ein verschrecktes »Ja, Herr« und flüchtete sich zu ihrer Mutter. Diese wollte sie auf den Schoß nehmen, doch der Onkel runzelte die Stirn und schüttelte unwillig den Kopf. Da schob die Tante Gorgo von sich weg und wandte sich von ihr ab. Auch der Onkel beachtete Gorgo nicht mehr und fuhr fort, vom Palast von Knossos zu erzählen.
Gorgo stand mit hängendem Kopf da, dicht neben ihren Eltern, und doch völlig verlassen. Leise begann sie zu weinen.
Verstohlen schaute Ismene zur Tante. Noch nie hatte die Tante Gorgos Tränen ungetrocknet gelassen. Sie musste Gorgo doch endlich trösten!
Aber die Tante tat so, als sehe sie die Kleine nicht.
Gorgos Schultern zuckten vor unterdrücktem Schluchzen.
Ismene hielt es nicht mehr aus. Sie stand auf, zog Gorgo von der Tante weg und nahm sie in die Arme. Gorgo weinte an ihrer Brust.
»Ist ja gut«, flüsterte Ismene ganz leise in Gorgos Ohr, »ist ja vorbei!« Und plötzlich dachte sie: Wäre der Onkel doch in Ägypten geblieben! Es war viel besser ohne ihn.
»Ismene«, sagte der Onkel, »stell die Kanne auf das Wandbord, bevor sie hier noch Schaden nimmt! Und hör auf, Gorgo zu trösten, sie soll sich das ruhig zu Herzen nehmen! Nicht wahr, Aerope?«
Einen Augenblick sah es aus, als wolle die Tante noch einmal ein Wort für Gorgo einlegen. Doch dann nickte sie. »Wie du es befiehlst, Machaon.«
Da spürte Ismene die Wut. Es war so wie immer, wenn die Wut kam: Als heißer kleiner Knoten begann sie in der Mitte des Bauches, wuchs und wuchs und wurde ständig heißer dabei, füllte den ganzen Körper, drang bis in die Kopfhaut, die Zehen und die Fingerspitzen.
Ismene ließ Gorgo los und stand auf. Mit zusammengepressten Lippen nahm sie die Kanne, trug sie zu dem Bord und stellte sie heftig darauf. Zu heftig.
Hart stieß der Schnabel der Kanne gegen die Steinwand.
Ismene hörte ein leises Knacken. Dann brach der Schnabel ab.
Mit der linken Hand konnte Ismene das abgebrochene Stück gerade noch auffangen, ehe es herunterfiel.
Da lag es in ihrer Hand. Sie schluckte.
Die Wut war wie weggeflogen. Stattdessen war da ein kalter Schreck.
Ismene warf einen kurzen Blick zurück zu Onkel Machaon und Tante Aerope. Die saßen beide mit dem Rücken zu ihr und hatten nichts bemerkt. Auch Kyrene und die Kleinen nicht.
Sie musste es sagen. Sofort. Mit jedem Augenblick, den sie wartete, machte sie es schlimmer.
Sie schwieg.
Ein Geschenk des Minos von Knossos – es wäre mir äußerst ärgerlich – von mir höchstpersönlich eine ordentliche Tracht Prügel –
Mit zittrigen Fingern steckte sie den abgebrochenen Schnabel wieder auf die Kanne. Er hielt. Solange man die Kanne nicht berührte.
Ihre Knie waren seltsam weich.
»Ismene«, sagte die Tante, »ruf Kalli! Bringt verdünnten Wein und Honigkuchen!«
Ismene räusperte sich, um überhaupt einen Ton hervorbringen zu können. »Sofort!«
Sie huschte aus dem Haus, holte draußen tief Luft und lehnte sich gegen eine der Säulen.
Wenn sie wieder ins Haus zurückging, würde sie es sagen. Herr, verzeiht mir, wurde sie sagen, es tut mir sehr leid.
Es war zu spät. Jetzt würde der Onkel nicht nur über den Verlust böse sein, sondern auch darüber, dass sie es erst verschwiegen hatte.
Wenn die Kanne ein paar Tage auf dem Wandbord stand, ehe jemand sie in die Hand nahm und den Schaden bemerkte, würde keiner mehr ahnen, wer das kostbare Ding zerbrochen hatte …
Mit dem Handrücken wischte Ismene sich die Tränen von den Wangen. Sie sah Kalli gemeinsam mit einer der neuen Sklavinnen Wassergefäße über den Burghof tragen, mit einem von den gefangenen Hyksos-Mädchen, die der Onkel am Vortag in die Burg gebracht hatte. Die beiden gingen dicht nebeneinander und waren in ein Gespräch vertieft. Vertraut sah das aus. Ismene hörte einige Fetzen einer seltsamen Sprache, von der sie nichts verstand.
»Kalli!«, rief Ismene. Auf einmal ertrug sie es nicht, dass Kalli – ihre Sklavin, die Einzige, auf die sie blind zählen konnte – eine Freundin aus ihrer alten Heimat gefunden hatte. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte sie Kalli vielleicht um Rat gefragt, was sie wegen der zerbrochenen Kanne machen sollte, aber so sagte sie nur: »Wir müssen dem König und der Königin verdünnten Wein und Kuchen bringen.«
Kalli nickte. »Ich hole den Wein und die Becher!« Sie rannte davon. Ismene folgte ihr langsamer, schichtete einige der vom gestrigen Tag übrig gebliebenen kleinen Kuchen auf einen Holzteller und kehrte gemeinsam mit Kalli in den Hauptraum des Frauenhauses zurück.
Vielleicht hatte der Onkel inzwischen schon gemerkt, dass die Kanne zerbrochen war?
Jeder Schritt fiel ihr schwer.
Die Kanne stand unverändert auf dem Wandbord, der Schnabel war nicht herabgefallen. Onkel und Tante saßen wie zuvor beieinander, nur hatte die Tante inzwischen noch bunt bemalte, wunderbar zarte Tassen aus dem Korb ausgepackt.
Ismene stellte den Teller mit den Kuchen auf einen niedrigen Holztisch. Kalli kniete nieder und wollte eben den Wein aus ihrem grauen Tonkrug in die grauen Tonbecher gießen, als die Tante sie zurückhielt. »Nein! Weihen wir das neue Geschirr ein! Kalli, dort auf dem Wandbord steht eine bunte Kanne, da füll den Wein hinein, aber sei vorsichtig, die Kanne ist sehr kostbar!«
»Ja, Herrin«, sagte Kalli gehorsam und erhob sich.
Ismene erstarrte. »Onkel Machaon«, flüsterte sie heiser, »bitte verzeiht, Herr, ich -« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Ja?«
»Ich, es tut mir leid, Herr«, sie stotterte, stockte. Er sah sie an.
Mit diesem Blick unter erhobenen Augenbrauen.
Es ging nicht.
Sie sprach hastig weiter: »Da ist nicht genug Honig auf den Kuchen, ich geh schnell sehen, ob ich noch welchen finden …«
Sie stürzte aus dem Raum.
Hinter sich hörte sie den kleinen erschreckten Aufschrei von Kalli.
Jetzt war es geschehen. Jetzt kam es heraus.

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